Schuck, Meißner, Will, Deutsche Akademie der Darstellenden Künste, Februar 2012

Europa, eine Plagiate-Saga Hörspiel des Monats

Plagiate plagiieren oder auch „copy, shake and paste“. So lautet das Prinzip von „Europa, eine Plagiate-Saga“. Till Müller-Klugs Hörspiel ist eine dynamische Collage, die sich aus den Versatzstücken zusammenkopierter Doktorarbeiten und Szenen über einen karrierebewussten EU-Politiker zusammensetzt, der dem krisengeschüttelten Europa mit einer „Chancenkonferenz“ und Imagekampagne auf die Sprünge helfen will. Dass dieser Christoph Sonthofen (Matthias Matschke) sich dabei neuer Cover-Versionen bekannter Songs bedienen will und später Lilly (Marleen Lohse), eine seiner Affären überzeugt, ihm die für den Ausschussvorsitz benötigte Doktorarbeit fertig zu schreiben, ist nur konsequent. Seine Beschränkung auf bereits Gesagtes ist freiwillig und hat System. Das Hörspiel erzählt nicht von Auswegen, die vor der „Eurokalypse“ retten könnten. Es breitet fröhlich den kompletten Sound aus, der die Suche nach Lösungen zur Zeit begleitet.

Ein rasant geschnittenes Nachrichtenmedley eröffnet „Europa, eine Plagiate-Saga“. Es folgt Sonthofens erster Auftritt, lässig, mit krächzender Stimme, von sich selbst begeistert wie ein junger Werbetyp. Die „Chancenkonferenz“ beginnt, sie wird unterbrochen von den Telefonaten mit Lilly, die so lange mitspielt, wie das Verhältnis zu Sonthofen eine EU-Karriere zu verspricht. Als sie bei ihm den Fotoordner „Euro-Miezen“ entdeckt, sind ihr sein Doktortitel und Ausschussvorsitz gleichgültig, sie nutzt die Vorarbeiten, um selbst Karriere zu machen. Das Plagiieren und Kopieren ist offenbar nicht mehr nur unter Politikern und Wirtschaftsleuten üblich, sondern in der Universität angekommen.

Mit „Europa, eine Plagiate-Saga“ ist Till Müller-Klug ein kurzweilig-kritisches Stück über Europa als Hölle selbstreferentieller Studien, lärmender Kampagnenmaschine und Karrierebeschleuniger gelungen. Es befeuert außerdem das Nachdenken über die Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur. Was unterscheidet eine zusammengeklaute Doktorarbeit von einer Literatur des Plagiats, deren bekanntestes Beispiel der Roman „Axolotl Roadkill“ (2010) ist? Was ist Kopie und was Plagiat, oder doch „Inspirat“, wie es an einer Stelle heißt? Was wird aus der Utopie eines Online-Europa angesichts von ACTA und der Kriminalisierung der Kopie als “Kulturform des 21. Jahrhunderts”?

Jochen Meißner, FUNKKORRESPONDENZ, 27.05.2011

Wider die Weltverschmutzung

Als „Sprachschöpferin der Prominenzklasse A minus” hat Lucinda Duval (Lavinia Wilson) in der virtuellen Welt eines Facebook-artigen Kontaktkarussells so ihre Probleme: nur 41 Freunde aber 2687 Feinde. Kein Wunder, denn ihre Firma, das „Sprachlabor Babylon”, entwickelt für die Initiative Neue Sprachwirtschaft (INS) neue Wörter und ganze Fach- und Geschäftssprachen mit selbstgenerierender Grammatik und automatischer Wortschatzaktualisierung. All das kann man sich per „Blauwellensender” direkt ins Sprachzentrum des Gehirns laden – wenn man es denn bezahlen kann. Denn parallel zum Aufschwung der Sprachwirtschaft wird der Grundwortschatz permanent gekürzt.

Eine öffentliche Sprachversorgung mit 30 000 subventionierten Wörtern kann man sich nur leisten, wenn die Sprachwirtschaft wächst – sagt jedenfalls Conny Ziegler (Maren Kroymann) von der INS. Deshalb lässt sie sich vom Sprachlabor Babylon auch schöne neue Tarnwörter für unschöne Sachverhalte entwickeln, zum Beispiel „Neueinstellungsvorbereitung” für die semantisch negativ belastete „Entlassung” bzw. „Freisetzung”. „Wortschatzkürzung” heißt im Neusprech „Wortschatzwachstum”, denn für ein mit großem Aplomb herausgegebenes neues Wort (hier „Frühstücksglück”) werden zehn andere gestrichen (wie in diesem Fall „Griffel”, „Betriebsferien”, Redefreiheit”, „Derwisch” etc.) und beim Versuch, sie auszusprechen, weggebeept – es sei denn, man zahlt sie extra mit seinen Sprachkreditpunkten.

In Till Müller Klugs knapp 50-minütigem Hörspiel geht es also hoch her. Während Lucinda Duval mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz namens Syntacticus (Markus Meyer) und ein paar nützlichen Tools wie Adjektiv-Isolatoren, Infinitiv-Eliminatoren und Wortkombinationskondensatoren „aufregende Akzente mit kühnen grammatikalischen Arrangements und modischen Neologismen” setzt, wächst auch der Widerstand der sogenannten „Sparsprachler” gegen die „Wortreichen”. Max (Daniel Wiemer) ein Slam-Poet aus dem Kontaktkarussell, entpuppt sich als Sprachvirus, der für einen „bedingungslosen Grundwortschatz” eintritt und am Ende Syntacticus übernimmt – aber so richtig gut geht es nicht aus.

In den von Regisseur Thomas Wolfertz rasant geschnittenen Dialogen, die durch Ekkehard Ehlers’ wunderbar abgehackten Elektro-Soundtrack noch beschleunigt werden, erzählt Till Müller-Klug auf höchst unterhaltsame und intelligente Weise davon, wie literarische Sprachproduktion funktioniert, und vor allem, dass Sprache politisch ist. Das wissen nicht nur die „Weltverschmutzer” (Frederic Beigbeder, „39,90″) in den Werbe- und Marketingagenturen, sondern das weiß auch die Gedankenpolizei der Political Correctness. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt”, wird Ludwig Wittgenstein zitiert, und plötzlich wird klar, worum es der INS, die man unschwer als Abwandlung der real existierenden „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” – einer Propagandaagentur des bundesdeutschen Neoliberalismus – erkennen kann, eigentlich geht: um immer engere Grenzziehungen und damit letztlich um Freiheitsberaubung.

„Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn […] die Worte fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich”, sagte Heiner Müller. Auch Till Müller-Klug weiß, dass die Worte das Entscheidende sind und die Fülle der Subtexte, die durch sein sprachmächtiges Hörspiel gehen, macht es – und hier schalten wir den Superlativ-Eliminator aus – nicht nur zu seinem bislang besten, sondern auch zu einem der anregendsten Sprachspiele der gegenwärtigen Hörspielszene überhaupt.

Hans-Christoph Zimmermann, Westdeutsche Zeitung, 11.03.2011

Deutschlandmärchen im Theater

Das Duo Bernadette La Hengst und Till Müller-Klug hat mit Stücken, die Originaltöne berühmter Politiker benutzen, Furore gemacht. Jetzt  kommen sie mit ihren „Deutschlandmärchen” ins Forum Freies Theater. Ein Gespräch mit Till Müller-Klug.

Herr Müller-Klug, was hat Politik mit dem Märchen zu tun?
Till Müller-Klug: Ein positiv besetzter Mythos wie die soziale Marktwirtschaft hat inzwischen einen Märchencharakter angenommen. Das überspitzen wir, indem wir es direkt mit den Märchen der Gebrüder Grimm in Beziehung setzen.

Welche Märchen benutzen Sie?
Till Müller-Klug: Im Zentrum steht „Frau Holle”, in dem die fleißige Tochter mit einem Kessel voll Gold belohnt und die faule mit dem Kessel voller Pech bestraft werden. Daraus ergeben sich viele Anknüpfungspunkte zur Leistungsgesellschaft. Darüberhinaus beziehen wir uns noch auf „Hänsel und Gretel“ und „Schneewittchen“.

Kennzeichen Ihrer Arbeit sind Original-Ton-Montagen.
Till Müller-Klug: Wir arbeiten diesmal mit O-Tönen von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie übernimmt die Rolle der Bundesmärchenerzählerin, die durch diesen Märchenpark führt. Zugleich ist sie die Chefin des Themenparks und scheucht die drei Angestellten herum. Es geht uns dabei nicht um Angela Merkel als Person, sondern um eine Kunstfigur, die wir mit Hflfe der O-Töne erschaffen.

Woher kommt Ihr Material?
Till Müller-Klug: Seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, veröffentlicht sie jede Wdche eine kurze Ansprache zu aktuellen Themen als Podcast. Das ergibt einen Fundus von etwa 200 Reden. Wir haben ausschließlich dieses Originalmaterial benutzt, es wurde nichts nachgesprochen oder imitiert.

Angela Merket hat doch sicher nicht über das Thema „Autoscooter“ gesprochen.
Till Müller-Klug: Sie hat viel über die Automobilindustrie gesagt und das haben wir entsprechend zusammengeschnitten. Wir manipulieren in den Reden mitunter massiv, teilweise Silbe für Silbe, Buchstabe für Buchstabe, damit dann etwas wie „Autoscooter“ herauskommt.

Was unterscheidet ihre Manipulationen von der Politik?
Till Müller-Klug: Wir machen eine Art von Gegenmanipulation, verstecken aber unsere Arbeitsweise nicht. Dass ,Knusper, Knusper Knäuschen“ derart holprig klingt, dass man also die Montage hört, ist gewollt. Zugleich klingt Merkel dadurch ein wenig wie diese etwas hölzernen Figuren in den Schaukästen der Märchenparks.

Lucía Tirado, Neues Deutschland, 29.12.2010

Keine neue Arbeit, keine neuen Zähne

Am Ende wird der Song noch einmal gepfiffen. Ein Ohrwurm, den die Leute mit nach Hause nehmen. Ob sie wollen oder nicht. Jeder weiß noch, worum es im Text ging. SIE wollte gern ein Happy End. Einen Prinz, möglichst gutaussehend. Kleines Glück, großes Glück. Märchenhafte Zustände.

„Deutschlandmärchen“ heißt die neue Produktion von Till Müller-Klug (Text, Regie) und Bernadette La Hengst, gefördert vom Hauptstadtkulturfonds. Wie bei dem vorherigen starken Stück Der innere Innenminister bedienen sich die Künstler zur Montage ihrer Ideen bei Originaltönen. Diesmal haben sie es zu einer nur an wenigen Stellen tontechnisch bearbeiteten „Live-Schaltung“ gebracht mit der herummerkelnden Chefin des schlecht organisierten Verbrechens, das sich große deutsche Politik nennt. Ein Vergleich zum vorangegangenen Stück ist nicht zu vermeiden. Auf den ersten Blick war das erste zupackender. Doch es scheint nur so. Denn das zweite ist kuscheliger verpackt, doch nicht weniger böse. Märchen haben das in sich. Die in Wäldern ohnehin.

Ein paar Plastiktannen und eine Hütte lassen sich im Bühnenbild gut bewegen. Mehr braucht es nicht für den Erlebnispark, in dem zwei Rekommandeurinnen dem Publikum das Fahrgeschäft Deutschlandexpress anpreisen. Claudia Wiedemer ist wieder mit von der Partie. Wie man es von ihr kennt, serviert die größte Gemeinheiten mit einem nicht zu übertreffenden hinreißenden Lächeln. Bettina Grahs an ihrer Seite ist in Berlin noch nicht so bekannt, passt aber mit ihrer zupackenden Art sehr gut hierher.

Die beiden lassen den Zug abfahren, kommentiert von der Chefin, die – beim Wirtschaftswunder beginnend – durch deutsche Geschichte kutschiert. In der Vorreiterrolle hier, in der Vorreiterrolle da führt sie ihre Reden selbst ad absurdum. Bis hin zu den tapferen deutschen Soldaten von heute, die im gefährlichen Ausland Leib und Leben riskieren, um „Frieden, Stabilität und Rohstoffe“ zu sichern. In märchenhaften Metamorphosen geht es zu Frau Holle und den beiden Töchtern, von denen nur eine den Wohlstandsregen genießt. Und die zwei Rekommandeurinnen, die immer neu beamtentreu auf ihre Aufgaben eingeschworen werden, müssen auf höhere Anweisung hin noch eine dritte Fachkraft für Elektronik ordern. Als eine, die Wachstumsbeschleunigungslieder und andere tolle Songs einbringen kann, landet Bernadette La Hengst auch im Erlebnispark. Ja, sie kommt einfach so dazu. Diese Szene ist noch nicht gut genug für das Stück. Dafür aber, mit welchen Fragen sie die anderen konfrontiert. So kommt ans Licht, dass die zwei Damen, die selbst nur zeitweise engagiert sind, verächtlich auf die schuftenden Zwerge herabblicken, die den Zug am Fahren halten. In die große Krise hinein wird dieses ackernde Volk zwar eher geschoben, kommt aber laut Chefin nach kräftigem Durchschütteln stärker wieder heraus als es hinein gegangen ist. Natürlich erst nach einem Stillstand, der als solcher gut inszeniert ist.

Till Müller-Klug bedient sich für den Text Grimmscher Märchenmomente. Benutzt wird auch das Spieglein an der Wand für die Frage `Wer hat die stärkste Wirtschaft in Europa?‘ Einmal jedoch scheint es, als hätten sich Charles Dickens Geister ins Spiel geschlichen. Ob nun gerufen oder nicht – Geister machen sowieso was sie wollen – sagen sie, sich grausig durch den verdunkelten Theatersaal bewegend, finstere Zeiten voraus: „Ohne neue Arbeit, keine neuen Zähne. Ohne neue Zähne keine neue Arbeit.“

So unverwechselbar gut kann man politisches Theater in einer Märchenstunde machen. Vor dem für Märchen unabdingbaren Happy End wird das Publikum sogar belohnt. Wie im richtigen Leben. Bei der Chancengleichheitslotterie gewinnen die Besucher zwar keine neuen Zähne, aber Schulbedarfspakete, Maßnahmen, Bankenrettungspakete oder neue Chancen. Also, man bemüht sich doch.

Elena Philip, nachtkritik.de, 14.05.2009

Kontrolle ist gut, Sicherheit ist besser

Niemand in Deutschland will einen Überwachungsstaat, hat der derzeit amtierende Innenminister Schäuble 2007 in einem Deutschlandradio-Interview versichert. Das klingt verdächtig nach Ulbrichts Diktum “Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten”, und daher ist Misstrauen angebracht. Innenminister kann zudem mit IM abgekürzt werden – eine Steilvorlage für jede Paranoikerin. Bernadette weist seit einem knappen Jahr Wahn-Symptome auf, sie hört Stimmen. Genauer gesagt eine einzige Stimme: Die des derzeit amtierenden Innenministers, der ihr seine politische Ansicht nahe bringen möchte – Sicherheit, Sicherheit über alles.

Bernadette La Hengst und Till Müller-Klug haben für “Der innere Innenminister” O-Töne von Schäuble zu spritzigen Audiocollagen zusammengeschnitten. Von einer neuen Polittechnologie ist die Rede, mit der die Bundesrepublik flächendeckend vor böser Bedrohung gesichert werden soll. “Zwischen innerer und innerster Sicherheit darf nicht unterschieden werden”, verkündet die Stimme im Ohr von Bernadette und ihrem Publikum. Vielleicht ist der innere Schäuble gar keine akustische Halluzination, sondern ein Pilotmodell, “Der innere Innenminister 2.0”, und unbemerkt bereits im Innersten der Persönlichkeit im Einsatz?

Was reimt sich auf Sozialstaat?

Niemand ist sicher vor dem inneren Innenminister. Und schon gar nicht vor dem äußeren Innenminister, denn als der eigentliche Paranoiker im verbalen Spiel um Freiheit und Sicherheit entlarvt sich Wolfgang S. Mit Bernadette La Hengst, ausgewiesen linksengagierte Musikerin, Performerin und Theaterautorin, hat er sich eine ernstzunehmende, rechtsruckresistente Dialogpartnerin gesucht. In der Therapie- und Forschungsgruppe “Stimmenhören respektieren” lernt sie unter der fachlichen Anleitung von Claudia Wiedemer, die Stimme so in ihr Innenleben zu integrieren, dass sie weitgehend unbeeinträchtigt ihren prekären, aber selbstbestimmten künstlerischen Tätigkeiten nachgehen kann.

Die geschliffene Politrhetorik des Amtsinhabers lässt sich sogar kreativ nutzen: “Was reimt sich auf Sozialstaat?”, fragt La Hengst, die an ihrem neuesten Song frickelt. “Arbeitsmarkt.” – “Etwas mit mehr innerer Sicherheit”. Pause. “Polizeistaat”. “Super, mit Ihnen mache ich öfter Musik”, freut sich La Hengst und textet mit Schäubles Hilfe einen Protestsong. “Kontrolle über Kontrolle” badensert der Innenminister in seinem “südländischen” Dialekt; “wir kontrollieren die Kontrolle des Staates” folgert die Songwriterin. Ist er letztlich doch kooperativ und für etwas gut, dieser aufdringliche innere IM!

Passgenaue Dialoge

Die radioerprobten Dialoge zwischen La Hengst und Schäuble – “Der innere Innenminister” wurde im Jahr 2008 als Hörspiel vom WDR ausgestrahlt – sind passgenau geschnitten und wirklich irre komisch. Als künstlerischer Kommentar auf die paranoide Sicherheitspolitik nach 9/11 wirken sie zugleich zutiefst abgründig. Für ihre Projektidee haben La Hengst und Müller-Klug den Bremer Autoren- und Produzentenpreis 2008 erhalten.

Die theatrale Uraufführung ist eine Mischung aus Hörspiel, Performance und Konzert. Claudia Wiedemer, als Solistin in Anja Gronaus “Trilogie der klassischen Mädchen” zu einem Aushängeschild der Berliner Freien Szene avanciert, managt als toughe Therapeutin das Bühnengeschehen, bis sie selbst die Stimme der britischen Innenministerin hört. “Europa sicher leben”, Schäubles Programm für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007, vervielfacht die internen Kontrollinstanzen.

Freiheit statt Freizeit

Einen cleveren Streich spielen Müller-Klug und La Hengst dem passiven Publikum, das die Selbsthilfegruppe darstellt und nicht um seinen Lerneffekt gebracht werden soll. Am Eingang war man gebeten worden, von einem Blatt Papier ein einzelnes Wort abzulesen und in ein Diktiergerät zu sprechen. “Ich” sage ich und suche mir einen Platz im Stuhlhalbkreis. Als die Aufnahme zum Stückende abgespielt wird, höre ich, dass “ich” mich mit meiner vorläufigen Entmündigung einverstanden erklärt habe.

Wie schön, keine Verantwortung mehr, nicht mehr Rechenschaft ablegen müssen – wir können Tag und Nacht tanzen, suggerieren unsere Tonbandstimmen. Doch das bekommen wir nicht durch bei Claudia und Bernadette, die im Abschlusssong weniger Freizeit und mehr selbst verantwortete Freiheit fordern. “Sensationell”, muss da sogar IM Schäuble zugeben, “ich fand’s ganz toll” – “Applaus, Applaus”. Den gibt es reichlich. Nicht nur für die Volte zum Schluss, sondern für durchgängig unterhaltsames engagiertes Theater.

Patricia Hecht, taz, 14.05.2009

Die Stimme im Kopf

Stimmen hört im Theater jeder. Die Frage ist nur: Wo kommen sie her? Im Fall der Sängerin und Performerin Bernadette La Hengst ist die Sache klar. In ihrem Kopf hat sich der amtierende Innenminister eingenistet. Aufdringlich, altklug und schwäbelnd wie üblich ist die Stimme plötzlich da, mitten in La Hengsts Hirn und Leben: “Die neuartigen Strukturen bedeuten Veränderungen für viele von uns.” Ist das der totale Überwachungsstaat?

Als Hörspiel angelegt, bringen Bernadette La Hengst und der Autor und Poetry-Slammer Till Müller-Klug ihr Stück “Der innere Innenminister” nun auf die Bühne. Für das Konzept haben sie 2008 den Bremer Autorenpreis bekommen, in den Sophiensælen wird die musikalische Hörspiel-Live-Performance heute uraufgeführt. Im Stuhlkreis einer Therapiegruppe für akustische Halluzinationen findet sich das Publikum hier irgendwo zwischen Wahn und Wirklichkeit wieder – auf dass wir alle unsere Stimmen im Kopf hören.

Vorerst ist es nur die der leicht perfiden Plaudertasche Wolfgang Schäuble. Aus Reden und Interviews ausgeschnitten und zu schnellen Dialogen montiert, befindet sich der Minister im neugierigen Zwiegespräch mit La Hengst – über die Neuorganisation der Bundespolizei etwa oder auch mal über guten Rotwein. Während seine Stimme aus dem Off kommt, spielt La Hengst sich selbst. Und es ist nicht abzustreiten: Die beiden bleiben zwar beim Sie, entwickeln aber doch eine gewisse Vertrautheit. Schließlich rät auch die von La Hengst aufgesuchte Psychologin (Claudia Wiedemer), eine Beziehung zu der Stimme aufzubauen, um mit dieser Form des Lauschangriffs fertig zu werden.

Man könnte dem gesampelten Minister fast Sinn für Humor unterstellen -aber die abgründige Komik des Stücks geht doch eher auf das Konto La Hengst/Müller-Klug. Die selbsternannte Multifunktionsmachinette und der Wortakrobat arbeiten zum dritten Mal zusammen und loten diesmal die sicherheitspolitische Realität in Land und Leben aus. Dabei ist es eigentlich ein ganz charmanter Gedanke, Schäuble sei nur ein paranoide Wahnvorstellung. Was genau der Minitrojaner jedoch vorhat, bleibt sein Geheimnis. Will er wissen, was die Gegenseite so plant? Oder sich als Freund und Helfer inszenieren? Seine Methoden jedenfalls sind klar: Er mischt sich in Dinge ein, aus denen er sich besser heraushalten sollte, und kommentiert ungerührt, was ihn nichts angeht – ganz wie im wirklichen Leben. Die absurdesten Momente des Stücks gehören ihm, etwa wenn er sein Vorgehen rechtfertigt, indem er erklärt, schon die Rauchzeichen von Indianern seien ausspioniert worden. Wer war hier noch mal wahnsinnig?

Aber nicht nur in La Hengsts Kopf gehen seltsame Dinge vor, auch das Publikum muss Psychotests aushalten. Die Teilnehmer der Schizophrenie-Selbsthilfegruppe werden angeregt, auf ihr Inneres zu lauschen, sich mit psychischen Krankheiten auseinanderzusetzen und ihren ganz alltäglichen Irrsinn mit der Gruppe zu teilen.

Zum Glück gibt es Musik. La Hengst greift zur Gitarre und liefert den Beweis: Ihre Stimme ist schöner als die in ihrem Kopf. Nach ein paar Schmeicheleien darf der Minister zwar auch mal ran und schwingt sich im Team mit La Hengst zu realpolitischer Poesie auf – im Originalton, versteht sich. Gegen die entspannte Power von La Hengsts Beatpop kommt ein rappender Innenminister jedoch nicht an.

Langsam zweifelt nicht nur Bernadette La Hengst, sondern auch die Psychologin an ihrem Verstand, und schließlich hört sogar das Publikum eine ganze Kakophonie innerer Stimmen. Vielleicht sind die neuartigen Überwachungstechniken bereits in unseren Alltag vorgedrungen. Gerade noch Treffpunkt einer Therapiegruppe, könnten die Sophiensæle auch schon eine innenpolitische Versuchsanstalt sein. Sind wir nicht alle ein bißchen schizo?