Keine neue Arbeit, keine neuen Zähne


Am Ende wird der Song noch einmal gepfiffen. Ein Ohrwurm, den die Leute mit nach Hause nehmen. Ob sie wollen oder nicht. Jeder weiß noch, worum es im Text ging. SIE wollte gern ein Happy End. Einen Prinz, möglichst gutaussehend. Kleines Glück, großes Glück. Märchenhafte Zustände.

„Deutschlandmärchen“ heißt die neue Produktion von Till Müller-Klug (Text, Regie) und Bernadette La Hengst, gefördert vom Hauptstadtkulturfonds. Wie bei dem vorherigen starken Stück Der innere Innenminister bedienen sich die Künstler zur Montage ihrer Ideen bei Originaltönen. Diesmal haben sie es zu einer nur an wenigen Stellen tontechnisch bearbeiteten „Live-Schaltung“ gebracht mit der herummerkelnden Chefin des schlecht organisierten Verbrechens, das sich große deutsche Politik nennt. Ein Vergleich zum vorangegangenen Stück ist nicht zu vermeiden. Auf den ersten Blick war das erste zupackender. Doch es scheint nur so. Denn das zweite ist kuscheliger verpackt, doch nicht weniger böse. Märchen haben das in sich. Die in Wäldern ohnehin.

Ein paar Plastiktannen und eine Hütte lassen sich im Bühnenbild gut bewegen. Mehr braucht es nicht für den Erlebnispark, in dem zwei Rekommandeurinnen dem Publikum das Fahrgeschäft Deutschlandexpress anpreisen. Claudia Wiedemer ist wieder mit von der Partie. Wie man es von ihr kennt, serviert die größte Gemeinheiten mit einem nicht zu übertreffenden hinreißenden Lächeln. Bettina Grahs an ihrer Seite ist in Berlin noch nicht so bekannt, passt aber mit ihrer zupackenden Art sehr gut hierher.

Die beiden lassen den Zug abfahren, kommentiert von der Chefin, die – beim Wirtschaftswunder beginnend – durch deutsche Geschichte kutschiert. In der Vorreiterrolle hier, in der Vorreiterrolle da führt sie ihre Reden selbst ad absurdum. Bis hin zu den tapferen deutschen Soldaten von heute, die im gefährlichen Ausland Leib und Leben riskieren, um „Frieden, Stabilität und Rohstoffe“ zu sichern. In märchenhaften Metamorphosen geht es zu Frau Holle und den beiden Töchtern, von denen nur eine den Wohlstandsregen genießt. Und die zwei Rekommandeurinnen, die immer neu beamtentreu auf ihre Aufgaben eingeschworen werden, müssen auf höhere Anweisung hin noch eine dritte Fachkraft für Elektronik ordern. Als eine, die Wachstumsbeschleunigungslieder und andere tolle Songs einbringen kann, landet Bernadette La Hengst auch im Erlebnispark. Ja, sie kommt einfach so dazu. Diese Szene ist noch nicht gut genug für das Stück. Dafür aber, mit welchen Fragen sie die anderen konfrontiert. So kommt ans Licht, dass die zwei Damen, die selbst nur zeitweise engagiert sind, verächtlich auf die schuftenden Zwerge herabblicken, die den Zug am Fahren halten. In die große Krise hinein wird dieses ackernde Volk zwar eher geschoben, kommt aber laut Chefin nach kräftigem Durchschütteln stärker wieder heraus als es hinein gegangen ist. Natürlich erst nach einem Stillstand, der als solcher gut inszeniert ist.

Till Müller-Klug bedient sich für den Text Grimmscher Märchenmomente. Benutzt wird auch das Spieglein an der Wand für die Frage `Wer hat die stärkste Wirtschaft in Europa?‘ Einmal jedoch scheint es, als hätten sich Charles Dickens Geister ins Spiel geschlichen. Ob nun gerufen oder nicht – Geister machen sowieso was sie wollen – sagen sie, sich grausig durch den verdunkelten Theatersaal bewegend, finstere Zeiten voraus: „Ohne neue Arbeit, keine neuen Zähne. Ohne neue Zähne keine neue Arbeit.“

So unverwechselbar gut kann man politisches Theater in einer Märchenstunde machen. Vor dem für Märchen unabdingbaren Happy End wird das Publikum sogar belohnt. Wie im richtigen Leben. Bei der Chancengleichheitslotterie gewinnen die Besucher zwar keine neuen Zähne, aber Schulbedarfspakete, Maßnahmen, Bankenrettungspakete oder neue Chancen. Also, man bemüht sich doch.